Driftet unsere Gesellschaft auseinander?

Rückblick auf die Vortragsveranstaltung
mit Prof. em. Dr. Werner J. Patzelt
am 07. März 2024

Deutschland befindet sich im Wandel – nicht nur technologisch samt veränderter wirtschafts- und energiepolitischer Zielsetzungen und damit politisch veranlasster Zukunftsausrichtung für Deutschland als Wirtschaftsstandort und Industrieland, sondern auch gesellschaftlich! Eine Wirtschaftsnation, welche zwischenzeitlich die erforderlichen Arbeitskräfte durch Zuwanderung sichern muss, dabei aber vor allem eine Zuwanderung in die Sozialsysteme und in Hilfsberufe organisiert, nicht aber in jene Wirtschaftsbereiche, in denen die erforderliche wirtschaftliche Wertschöpfung erzielt wird, kann den gemeinsamen Wohlstand nicht mehr garantieren.

In einer migrantisch geprägten Gesellschaft führen auftretende Bildungs- und Wohlstandsspannungen leicht in ethnisch-kulturelle Konfliktlagen. Tatsächlich ist aus unserem Gemeinwesen, das sich seiner demokratischen Legitimität und Integrationskraft lange Zeit so sicher war, eine politische Ordnung geworden, aus der sich ein Teil des Volks durch Politikverdrossenheit und Wahlabstinenz zurückgezogen hat. Andere nicht minder Wenige kämpfen gegen diese politische Ordnung mit populistischem Protestverhalten.

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Ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland hat das Vertrauen in die staatstragenden Parteien verloren oder zweifelt zumindest deren Handeln stark an. Die demokratische Teilhabe des Volkes schwindet. Die Bevölkerung sieht in deren Anführern nicht mehr wirkliche Repräsentanten der realen Meinungs- und Interessenverteilung. Ähnliches Misstrauen und entsprechendes ablehnendes Verhalten gegenüber den etablierten Massenmedien führt ferner zu Beeinträchtigungen der in der Vergangenheit verbundenen politischen Öffentlichkeit. Die voranschreitenden Zerfallsprozesse zwischen den „etablierten“ Medien und höchst unterschiedlichen Tummelplätzen von „alternativer Berichterstattung“ werden zusätzlich verstärkt durch die etablierten Internet-Medien. Zunehmende Polarisierung ist die Folge. „Sie ist die schmerzlichste Erfahrung beim Schwinden gesellschaftlichen Zusammenhalts in unserem Land“, mahnt Prof. Patzelt.

Patzelt mahnt „gesellschaftlicher Zusammenhalt ist keine Naturtatsache, auf deren Vorhandensein man sich einfach verlassen kann, sondern bedarf ganz im Gegenteil sogar steter Pflege“. Derlei gelingt aber nur, wenn man jene Gesellschaft nicht überfordert, um deren Zusammenhalt es geht. Doch es gäbe nicht weniger als sechs folgenreiche Herausforderungen unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts, so Prof. Patzelt.
Die erste Herausforderung ist der Wandel Deutschlands zur multikulturellen und multiethnischen Einwanderungsgesellschaft. Einerseits breitet sich das Gefühl der „Entheimatung“ im Land aus. Andererseits entsteht eine scharfe Gegnerschaft von Befürwortern und Gegnern der bisherigen Einwanderungspolitik.

Zweitens ist da das Schreckbild der vielerorts bereits entstandenen Parallelgesellschaft samt der sie begleitenden ethnisierenden Zerstückelung eines bislang gemeinsamen öffentlichen Raums. Das möchten viele im eigenen Land, in der eigenen Region oder wenigstens in der eigenen Stadt verhindern. „Nichts hat unsere Polarisierung stärker gefördert als die Einwanderung seit dem Jahre 2015“, so Prof. Patzelt.
Drittens besteht ein großes Risiko, dass soziale Verteilungskonflikte sich mit kulturellen und ethnischen Konflikten verbinden. Die staatlichen Ausgaben für Migranten steigen, insbesondere im Rahmen eines politisch – und somit demokratisch – nur wenig gesteuerten Zuwanderungsgeschehens. Dieses Risiko verschärft sich zudem im Ausmaß, in dem andere wichtige öffentliche Ausgaben nicht erhöht werden können oder gar gekürzt werden müssen. Bei Kosten von jährlich rund 50 Mrd. Euro für die Versorgung von Migranten nimmt auch das soziale und verteilungsspezifische Konfliktpotenzial zu.

Viertens gibt es das Risiko der Übernutzung „öffentlicher Güter“, d.h. einer „Tragödie der Allmende“. Dieses Risiko steigt zwangsläufig an durch eine unbegrenzte Ausweitung des Kreises von Mitnutzern öffentlicher Güter. Derlei betrifft zunächst einmal die Inanspruchnahme des Sozialstaats durch solche Deutsche und Migranten, die – warum auch immer – nicht in der Lage sind, durch die Aufnahme von Berufstätigkeit zur Finanzierung unseres Sozialstaats beizutragen. Durch die jährlich zuwandernde Bewohnerschaft von inzwischen „mehr als drei Großstädten“ verschärft sich beispielsweise die Knappheit an Wohnraum und Infrastruktur.

Patzelt weist bei fünftens auf ein stark gesunkenes Vertrauen von Teilen der Bevölkerung dahingehend hin, dass die Funktionseliten aus Politik, Medien, Kultur und Zivilgesellschaft all jene Herausforderungen und Probleme vor denen Deutschland steht, überhaupt ernst nähmen und dann auch Lösungen wüssten. Das Erstarken der AfD transformiere entsprechendes stabiles Protestverlangen von Teilen der Bevölkerung in Viel-Parteien-Parlamente, in denen die Bildung von Regierungen schwierig wurde. Tatsächlich weist Deutschland seit einiger Zeit eine nicht-linke Bevölkerungsmehrheit auf, die aber von linken oder Mitte-links-Koalitionen regiert wird. Die Ausweglosigkeit dieses Zustandes, bedingt durch die vorherrschende Brandmauer und der daraus resultierenden Unmöglichkeit von Koalitionen zwischen CDU und AfD, lässt das politische Vertrauen der Bevölkerung noch weiter sinken.

Und sechstens ist da die Polarisierung von Eliten und der Gesellschaft über die Frage, welche Wege zur Bewältigung solcher Herausforderungen wirksam seien. Links-grün-woke Funktionseliten in Medien, Akademien und Politik haben die notwendige inhaltliche Auseinandersetzung mit den – als Gegengewicht zu ihnen aufgekommenen – Kräften verweigert, oder sie versuchten eine solche Auseinandersetzung nur durch Ausgrenzung und Abqualifizierung von „politisch Unkorrekten“ zu führen. „Dies alles erhitzt, ja vergiftet das innenpolitische Diskursklima und beschädigt den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, warnt Prof. Patzelt.

Patzelt widmete sich auch der Frage, woran man erkennt, ob eine Gesellschaft wirklich auseinanderdriftet. Er führt als Beispiel das Bürgergeld an, seitdem es zu einem von Migranten und Schulabgängern gern genutzten Lebensunterhalt mutiert sei. Ferner geht es um das Medienvertrauen und Mediennutzungsverhalten sowie über das an den Tag gelegte kommunikative Handeln von Einzelnen oder Gruppen. Patzelt sieht unsere Gesellschaft sich immer mehr in „Meinungshöhlen“ ansiedeln, außerhalb welcher es zu rhetorischen oder gar tätlichen Feindseligkeiten kommt. „Am deutlichsten wird dies an der wechselseitigen Kommunikationssperre zwischen den Grünen und der AfD“, so Prof. Patzelt.

Patzelt weist auch auf die Selbstorganisation und Eigendynamik von Bevölkerungsgruppen hin, die sich – etwa aufgrund von Veränderungs- und Entheimatungsprozessen – gesellschaftlich ausgegrenzt fühlen, oder die „innerlich gekündigt“ haben. Letzteres findet sich weithin in den Reihen von AfD-Anhängern. „Selbst in den Reihen jener Linksextremisten, die – in letzter Zeit vermehrt mit Brandanschlägen, wie beispielsweise bei Tesla in Grünheide – den Kampf gegen ausbeuterischen und klimaschädigenden Kapitalismus meinen führen zu müssen, sind solche Tendenzen erkennbar“, so Prof. Patzelt. Auch gehe es um jene Narrative, durch welche Eigenidentität gestiftet und Zusammenhalt auch gerade über das Abwehrverhalten gegenüber „Fremden“ oder „Feinden“ geschaffen wird. In den derzeitigen Demonstrationen „gegen rechts“ werde solche Exklusion des unbedingt abzuwehrenden Anderen sichtbar oder aber im politischen Ausschluss von AfD, der WerteUnion und jener konservativen Teile der CDU.

Welche Ressourcen gibt es wohl dafür, unter solchen Umständen einem weiteren Auseinanderdriften unserer Gesellschaft zu wehren? Ziel muss die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Wohlstands sein, der nicht nur als auskömmlich, sondern auch als halbwegs gerecht verteilt empfunden wird. Hier braucht es gewiss eine andere Wirtschafts- und Energiepolitik. Ferner braucht es Jene, die sich als Bürger ganz selbstverständlich für ein gutes und dauerhaftes Miteinander einsetzen – eine Bereitschaft, sich auch selbst in den Dienst dieses Gemeinsamen zu stellen. Das alles lässt sich auf den Begriff des „Patriotismus“ bringen. Patzelt fordert, „wir sollten nicht länger so tun, als sei Patriotismus entbehrlich oder gar problematisch.“

Daneben sei eine verlässliche Konstanz bei der Regelvermittlung und Regelbefolgung wichtig. Dazu gehörten stabil funktionierende Erziehungs- und Bildungssysteme mit zuverlässig tradierten Wert- und Kulturmustern, desgleichen verlässliche und erwartbar verhaltensbeeinflussende Bestrafungen von Regelverletzungen.

Auch das Akzeptieren und Ausleben des Rechts auf Verschiedenheit sowie die Nutzung von zivilisiert geführtem Streit und Diskurs als Mittel zum politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lernen sei wichtig. Einesteils hat sich die Überzeugung verbreitet, Gewalt sei durchaus gerechtfertigt, sobald sie für „das Gute“ oder „gegen die Schlechten“ eingesetzt werde. Andernteils ist es zur Standardreaktion geworden, grundlegenden Streit lieber durch eine Ausgrenzung abgelehnter Andersdenkender zu vermeiden, als ihn im Vertrauen auf die Überzeugungskraft der eigenen Argumente redlich zu führen.

Bei der Lösung Deutschlands Probleme helfe die verbesserungsfähige Demokratie. Neben der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gelten jene kulturellen Errungenschaften, denen unsere Verfassungsordnung überhaupt erst ihre Plausibilität verdankt. Nach Patzelt gehören hierzu die Trennung von Staat und Religion, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Wertschätzung des Strebens nach selbstdefiniertem, nicht vorgegebenem Lebensglück, sowie die Verbindung von Freiheit mit persönlicher Verantwortung für die Folgen der Nutzung von Freiheit.

Patzelt fordert, die ausführlich beschriebenen Probleme nicht kleinzureden oder wie von selbst verschwindend zu verharmlosen. Falsch ist es nach Patzelt, politische Konkurrenten wie die AfD, die sachlich zu stellen man jahrelang versäumt hat, und die vielleicht auch durch eigene Politikfehler erstarkt sind, vom Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen. Es werde nur das politische Klima vergiftet – und keineswegs jene Gefahren abgewendet, gegen die mit Reden und Gesten aufzustehen so viele so stolz macht. Patzelt fordert eine Bereitschaft zum Perspektivenwechsel innerhalb der Politik, desgleichen den Verzicht auf bequemes Ausgrenzungsverhalten. „Andersdenkende sind keine Feinde“, zitiert Prof. Patzelt den Rechtshistoriker Karl Schmidt.

Abschließend betont Prof. Patzelt, dass es viel zu tun gäbe. „Zwar kann keiner von uns das große Ganze beeinflussen. In unserem persönlichen und beruflichen Wirkungskreis haben wir aber sehr wohl Einfluss.“ Also sollte sich eben doch niemand wegducken oder das, was von jedermann machbar ist, lieber anderen überlassen. Mit den Zitaten „Vereint ist auch der Schwache mächtig“, von Friedrich Schiller und Erich Kästners „Es gibt nichts Gutes – außer: man tut es!“ beendet Patzelt seinen hervorragenden Vortrag.