Europa in „Gestundeter Zeit“

Rückblick auf die Vortragsveranstaltung mit Prof. Dr. Jürgen Strube 22.10.2020

Es kommen härtere Tage.

Der frühere langjährige Vorstandvorsitzende und spätere Aufsichtsratsvorsitzende des Chemieunternehmens BASF stellte die vielfältigen Herausforderungen, mit denen die Europäische Union derzeit konfrontiert ist, in den Vordergrund seiner Ausführungen.

Gerade weil er mit seiner Familie viele Jahre außerhalb der EU gelebt habe, liebe er Europa, dessen Einigung in vielen Ländern bewundernd als Vorbild angesehen werde. Strube sieht „härtere Tage“ auf Europa und seine Bevölkerung zukommen. Gründe dafür seien die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, der Brexit, die Spannungen zwischen Europa und den USA, das Vordrängen Chinas in Eurasien und Afrika sowie die Machtdemonstration Russlands unter Präsident Putin.

Strube ist auch geschäftsführender Gesellschafter der vor kurzem ins Leben gerufenen Brigitte-Strube-Stiftung. Zu den Zwecken dieser Stiftung zählt die Förderung des demokratischen Staatswesens, der Völkerverständigung und einer internationalen Gesinnung.

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Kritisch beleuchtete Strube in seinem Vortrag die Finanzierung der europäischen Staatshilfen durch Kreditaufnahme der EU für von der Pandemie besonders betroffene Länder wie Spanien, Italien und Griechenland. Ein Forschungsprojekt des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), das von der Brigitte-Strube-Stiftung gefördert wird, geht der Frage nach, wie eine europäische Stabilisierungspolitik aussehen kann, die kurzfristig effektiv ist und zugleich nachhaltige Anreize für eine verantwortungsvolle nationale Wirtschaftspolitik schafft. Zur Rückzahlung aufgenommener Kredite setze die Europäische Kommission auf neue Finanzquellen wie Steuern auf Kunststoffe, eine Finanztransaktionssteuer oder die höhere Besteuerung von Digital-Hightech-Unternehmen. Keine dieser Steuerquellen sei bisher in Gesetzen definiert. Die Rückzahlung der Kredite könne aber nur erfolgen, wenn die Empfängerländer die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft deutlich steigerten.

Da die Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien noch zu keiner Einigung geführt haben, befürchtet Strube einen harten Brexit. Insbesondere eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland, könne erneute Unruhen auslösen. Strube regt an, Kontakte zu den Bürgern des United Kingdom aufrecht zu halten und zum Beispiel durch vermehrten Schüleraustausch zu fördern.

Mit Sorge sieht Strube einen Rückzug der USA von der regelbasierten Weltordnung. Die vom amerikanischen Präsidenten Ronald Trump voran getriebene Amerika-First-Politik gefährde globale Wertschöpfungsnetzwerke und erhöhe Kosten und Preise von US-Produkten. Der politisch gewollte Verzicht auf die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung habe Folgen für die Investitionen vieler Unternehmen. Das Grundvertrauen in einen Zusammenhalt der atlantischen Welt, die Interessenunterschiede mit Argumenten austrägt, könne so zerstört werden. Zugleich sieht Strube Chancen für Europa, wenn den Herausforderungen an Sicherheits-, Handels- und Innovationpolitik mit gemeinsamem Selbstbehauptungswillen begegnet würde. Positiv bewertet Strube einen möglichen Wahlsieg von John Biden, der wieder zu einer belastbaren Vertrauensbasis zwischen der EU und den USA führen könne.

Die Hoffnung des Westens, dass China sich nach dem Zerfall der Sowjetunion durch die Aufnahme in die westlich geprägte Weltordnung zu einer Marktwirtschaft mit schrittweiser Einführung demokratischer Regeln und rechtsstaatlicher Freiheiten entwickle, habe sich nicht realisiert. Als Land mit autoritärer Staatsführung in Verbindung mit einer Mischung aus Staats- und Privatkapitalismus strebe die Volksrepublik die Vorherrschaft in Asien und darüber hinaus an. Die dominante Stellung des chinesischen Präsidenten Xi Jinping beeindrucke mit ihrer Machtfülle. Diese sei jedoch zugleich die Schwäche des chinesischen Systems, weil dadurch der Wettbewerb um die beste Idee, die vernünftigste Konzeption und die optimale Zusammenstellung des Führungsteams weitgehend ausgeschlossen sei. Strube zeigt sich überzeugt, dass „Europa mit seiner Marktwirtschaft und seinem Wettbewerb bei Innovationen langfristig die besseren Chancen“ habe: „Wir können mehr als wir glauben!“

Auch das Verhältnis Europas zu Russland sei schwierig, weil Präsident Putin erfolgreich versuche durch außenpolitische Machtdemonstrationen von den wirtschaftlichen Schwächen abzulenken. Das Land sei gewillt, seine militärische Macht zur Stärkung seiner strategischen Position zu nutzen. Das hätten die Krim-Annektion und das Eingreifen in Syrien gezeigt. Aber Russland sei auch ein europäischer Nachbar und wichtiger Geschäftspartner für Europa. Deshalb müsse Europa zwischen dem Eintreten für Menschenrechte und langfristigen europäischen Interessen sorgfältig abwägen. Zu bedenken sei auch, dass der Westen und seine Lebensform für viele Russen ein Sehnsuchtsziel bleibe.

Abschließend appelliert Strube an seine Zuhörer, die Chance zu nutzen, an der Gestaltung von Europas Zukunft mitzuwirken: „Um eine Systemkrise unserer Demokratie zu verhindern, müssen wir mehr Einheit in der Vielfalt Europas erreichen. Dazu bedarf es einer Führung in der EU durch Deutschland und Frankreich!“