Die EU nach der Europawahl
Rückblick auf die Vortragsveranstaltung mit Rainer Wieland, MdEP
Die Europawahl 2019, die vom 23. bis 26. Mai in den Mitgliedstaaten der EU stattfand, war die neunte Direktwahl zum Europäischen Parlament. Herr Wieland gehört ihm seit 1997 an; er ist seit mehreren Wahlperioden auch Mitglied des Präsidiums. So konnten die Zuhörer erwarten, dass er nicht nur aus seinen langjährigen Erfahrungen berichtet, sondern auch von einer höheren Warte aus. Sein Vortrag und seine Ausführungen in der anschließenden Diskussion übertrafen diese Erwartungen.
Der Spannungsbogen begann mit dem schon bei der Europawahl 2014 angestoßenen Thema eines Spitzenkandidaten für die EU-Kommission (damals setzte sich Claude Juncker gegen Martin Schulz durch, 2019 führte der Einsatz von Emmanuel Macron gegen den eigentlichen Spitzenkandidaten zur Nominierung von Frau Dr. von der Leyen. Danach ging es um die Änderungen, die seit 2014 in der Weltpolitik und in der Parteienlandschaft eingetreten sind (die Wahl von Donald Trump, die Diskussion um den Brexit, das Erstarken der Populisten) und die sich auch auf die politischen Inhalte der Fraktionen und die Fraktionstärke auswirken: Die EVP erscheint als die geschlossenste Gruppierung, die Sozialisten sind zersplittert, die Liberalen wirken zerrissen, was auch durch die Neuaufstellung von „Renew Europe“ bedingt ist, und die Grünen haben nur einen Sitz mehr als die Nationalisten um den Rassemblement National und die AfD. Das wird die Zukunft der Parlamentsarbeit bestimmen, und, weil das Parlament über alle Vorschläge der EU-Kommission beschließen muss, auch die Arbeit der Kommission. Einen ersten Eindruck davon haben die Erklärungen von der Leyens unter anderem zum „Green Deal“ vermittelt.
Neue Konzepte erwartet Herr Wieland in der Außenpolitik: die EU müsse mit einer Stimme sprechen. Als Negativbeispiel erwähnte er das isolierte Auftreten der EU-Vertreter bei den Verhandlungen zu einem Wirtschaftsvertrag mit Kanada. Einheitlichkeit wird auch vermisst in der Kommunikationstechnik und in der Verteidigung. Bei Letzterer spiele auch eine Rolle, dass Schweden und Österreich neutrale Staaten seien und z.B. Deutschland eine Parlamentsarmee habe, während sie in Frankreich dem Präsidenten untersteht. Man müsse auch akzeptieren, dass die Forderung der USA nach einer anderen Verteilung der NATO-Lasten berechtigt sei. Was Herr Wieland als unberechtigt kritisierte, sei die seit Jahrzehnten bestehende Auffassung, Deutschland sei der „Zahlmeister Europas“. Pro Kopf entstehen in Deutschland jährlich etwa 200 Euro an Kosten für die EU, während allein für den Länderfinanzausgleich jeder Bürger von Baden-Württemberg 250 Euro pro Jahr aufbringe. Solidarität bedeute, dass man auch über Grenzen hinweg die Situation und die Position anderer begreife und akzeptiere.
Auf die Erklärung von der Leyens zum „Green Deal“ bezog sich die erste Frage in der Diskussion, von der Herr Wieland schon am Beginn seines Vortrags sagte, dass er ihr viel Zeit einräumen will. Weitere Fragen gab es dazu, warum die Politiker zu wenig die Alltagssorgen der Bürger thematisieren und stattdessen viel zu oft über Nebenfragen wie z.B. Gendergerechtigkeit reden. Auch das Thema „Klimawandel“ werde zu sehr in den Mittelpunkt gestellt – zu maroden Straßen und Brücken, kaputten Schulbauten und den Rückgang von Allgemeinbildung und gegenseitigem Respekt werde viel zu wenig gesprochen. Ein Teilnehmer fragte, ob die Arbeit der Europäischen Zentralbank nicht mehr Einfluss auf unser Leben habe als die der EU-Kommission, ein anderer wollte die Kosten der Verteilung von EU-Institutionen auf mehrere Standorte beziffert bekommen.
Herr Wieland ging alle diese Fragen sehr offen an und debattierte äußerst engagiert mit den teilweise recht skeptischen Diskutanten. Nach Auffassung aller Anwesenden bildete sein Vortrag einen sehr gelungenen Abschluss der Jahresveransltaltungen 2019 des FWP.