Zum Zustand der Meinungsfreiheit in der deutschen Gesellschaft – Dürfen wir sagen, was wir wollen, oder müssen wir äußern, was Andere meinen?

Rückblick auf die Vortragsveranstaltung
mit Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof am 10. April 2025

Nach einer Umfrage sind etwa 40% der Deutschen der Ansicht, man könne bei uns nicht mehr frei reden; fast die Hälfte von uns neigen zur Vorsicht, wenn sie etwas Unpopuläres sagen wollen. Der Befund erstaunt, denn wir leben in Deutschland in einem Staat, der die Meinungsfreiheit immer hochgehalten hat. Im Grundgesetz wird sie umfassend gesichert: Art. 5 Abs. 1 GG schützt die private Meinungsäußerung und die Freiheit der Medien. Spezielle Gewährleistungen für sie finden sich in den Art. 4 (Religionsfreiheit), 5 Abs. 3 (Schutz von Kunst und Wissenschaft) und Art. 8 GG (Demonstrationsrecht als Sicherung kollektiver Meinungsäußerung). Alle vier Grundrechte werden von den Gerichten in gesicherter Rechtsprechung weit ausgelegt. Geschützt ist jegliche Meinungsäußerung ohne Rücksicht auf ihr Niveau, ihre Motivation oder ihren Inhalt. Die „Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film“ in der Formulierung des Grundgesetzes aus dem Jahre 1949 wurde in der Folgezeit auf alle neuen Medien, wie Fernsehen oder Blogs und Foren im Internet, erstreckt; geschützt werden nicht nur die Beiträge in der Zeitung, sondern der gesamte Presseapparat in Vertrieb, Finanzierung und Binnenorganisation. Den Journalisten stehen besondere Informations- und Zugangsrechte bei öffentlichen Veranstaltungen zu; sie besitzen in den Prozessordnungen Zeugnisverweigerungsrechte, um ihre Informationsquellen nicht aufdecken zu müssen.

Aus datenschutzrechtlichen Gründen benötigt YouTube Ihre Einwilligung um geladen zu werden.

Normativ ist die Meinungsfreiheit in Deutschland also bestens gesichert.   Der Staat hält sich deswegen auch von Zugriffen auf diese Grundrechte fern. Wo er eingreifen wollte, sind sofort die Gerichte eingeschritten, wie die Stichworte Spiegel, Cicero und Compact in Erinnerung rufen. Aktuelle Risikobereiche gibt es nur am Rande: Die Nichtvergabe von Stadthallen oder Hörsälen wegen unerwünschter Themen, die Meinungsbildung durch den Staat selbst in Pressekonferenzen, eigenen Webseiten u.ä. wurde stets unterbunden.

Der Staat hat seine Lektion gelernt. Ein neues Risiko für die Meinungsfreiheit entsteht aber unterdessen aus der Gesellschaft selbst. Der britische Liberale John Stuart Mill beklagte bereits im 19. Jahrhundert die „wachsende Neigung der Gesellschaft, in die Freiheit des Individuums einzudringen.“ Diese Gefahr ist in den letzten zwei Dekaden erheblich angewachsen. Sie kommt heute aus drei Richtungen auf die deutsche Gesellschaft zu.

Private, jedermann zugängliche Internetforen bilden „Meinungsblasen“, die als Echokammern nicht zur offenen Diskussion von Ansichten dienen, sondern nur Gleichgesinnte meinungsverstärkend um sich versammeln. Vor allem wenn sie einzelne Personen im „Shitstorm“ an den Pranger stellen, unterdrücken sie unbeliebte Ansichten. In der anonymen Bewertung von Firmen, Verbänden oder Personen attackieren sie unerwünschte Meinungen oder Tätigkeiten. Sie diffamieren damit die Meinungen anderer, statt sich ihnen mit Argumenten im öffentlichen Diskurs zu stellen.

Private Firmen mit großer Informations- und Finanzmacht – vor allem die „Big Five“ des US-Internets – monopolisieren Meinungsangebote, so dass dem User im Internet nur noch ein Ausschnitt aus dem öffentlichen Diskurs zur Verfügung steht.  Ihre Informationen werden meistens von interessen- und marktorientierten Algorithmen generiert. Sie schließen Meinungen anderer Motivation aus und verengen das Argumentationsspektrum in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung oft auf ökonomische Themen. Als adressatlose Anbieter im Internet entziehen sie sich oft der nationalen Rechtsordnung des Users und der gerichtlichen Kontrolle. Hier ist noch viel Wildwuchs vorhanden, der den öffentlichen Diskurs verengt und vernebelt.

Die größte Gefahr droht aber der Meinungsfreiheit in Deutschland von einer Veränderung der zwischenmenschlichen Gesprächskultur, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten durchgesetzt hat. Öffentliche Diskussionen beruhen auf der Selbstverständlichkeit, dass jeder Teilnehmer dem Anderen respektvoll zuhört, dessen Argumente ernst nimmt, abwägt und auch bereit ist, sich vom besseren Argument des Anderen überzeugen zu lassen. Am öffentlichen Diskurs beteiligt sich mittlerweile die Figur des „moralisierenden Missionars“. Er will gar nicht sachliche Erwägungen austauschen und seinem Gegenüber zuhören.  Er vertritt nur seine vorgefasste Meinung in der sicheren Überzeugung, dass sie die einzig richtige ist und gegensätzliche Auffassungen falsch sind. Er ist kommunikationsunfähig, denn er will nicht argumentieren und überzeugen, sondern nur überreden und anderen seine Meinung aufzwingen. Ein Andersdenkender ist für ihn nicht ein Gegenpart mit ernstzunehmenden, vielleicht sogar besseren Argumenten, sondern nur ein Gegner, der sich keinesfalls durchsetzen darf, denn dann würde das „Falsche“ oder gar das „Böse“ siegen. Diesem Missionar wird jede Auseinandersetzung zur moralischen Frage, sei es das Thema vegetarische Ernährung, Kernkraft, Klima oder Radfahren. Wer ihm widerspricht, liegt nach seiner Meinung nicht nur „falsch“, sondern handelt unmoralisch. Sein Verhalten muss deshalb bekämpft statt abgewogen und erörtert werden.

Um seine moralische Gewissheit durchzusetzen, hat er mittlerweile vier Techniken entwickelt, die der Gesellschaft seine Lösungen aufzwingen sollen. Mit ihnen gelingt es kleinen Gruppen, ihre Meinung durchzusetzen, statt für sie mit Argumenten zu werben und Mehrheiten zu finden. Der Hinweis auf ihre angeblich moralische Gebotenheit bewirkt, dass die Mehrheit der Andersdenkenden sich zurückhält oder verstummt. Alle vier Techniken sind als Empfehlungen für ein gedeihliches Zusammenleben der Gesellschaft durchaus beherzigenswert. Als bindende, vorgeblich ethische Pflichten schießen sie aber nicht nur über dieses ursprüngliche Ziel hinaus, sondern zwingen den öffentlichen Diskurs in ein Meinungskorsett, das anderen Auffassungen die Luft nimmt und zur gesellschaftlichen Zensur wird.

Der Aufruf zur „political correctness“ sollte ursprünglich dazu mahnen, Personen oder Gruppen nicht durch eine verächtliche Etikettierung zu stigmatisieren und aus der Gesellschaft auszuschließen. Diesem Appell kann man sich eigentlich nur anschließen. Wenn political correctness aber als verbindliches Verbot vom politischen Missionar bestimmter Namen oder Bezeichnungen eingefordert wird, beginnt die meinungsschädliche Zensur. Die gesellschaftliche Realität wird nicht mehr korrekt abgebildet, wenn wir Ereignisse oder Personen nicht mehr nach eigener Erfahrung benennen dürfen. Wie bezeichnet ein Professor seinen Beruf nach seiner Emeritierung, wenn aus Gendergründen für seine frühere Tätigkeit nur das Partizip Präsenz Plural erlaubt ist und er sich Hochschullehrender a. D. nennen müsste, obwohl er doch gerade nicht mehr lehrt? Darf man, weil § 5 Abs. 4 StVO beim Überholen von „zu Fuß Gehenden, Rad Fahrenden und Elektrokleinstfahrzeug Führenden“ einen Abstand von 1,5 m vorschreibt, sobald diese am Straßenrand warten, an ihnen im 10cm-Abstand vorbeibrausen? Derartige Begrifflichkeiten aus political correctness sind nicht nur lächerlich, sondern schließen ganze Bereiche der Realität aus.

Gesellschaftliche Vorzensur wird ausgeübt, wo unter dem Motto „cancel culture“ bestimmte Meinungen boykottiert und diskreditiert werden sollen. Was anfangs mit Recht dazu diente, extremen Anschauungen wie Sexismus oder Rassismus keine öffentliche Bühne zu bieten, führt als verbindliches Verbot von Meinungen zum öffentlichen Tabu. Auf diese Weise werden ohne jegliches Argument Äußerungen zur Geschlechteridentität, wie sie z.B. von Margaret Atwood oder Joanne Rowling gemacht wurden, aus der Diskussion verbannt, dürfen Geschichts- und Politologie-Professoren ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht mehr verbreiten und werden Politiker vom öffentlichen Auftreten wegen ihrer Ansichten ausgeschlossen. Den Schaden tragen Gesellschaft und Demokratie davon, denn das Meinungsspektrum zu einer Frage wird nicht mehr vollständig vorgetragen.

Ebenfalls zur gesellschaftlichen Vorzensur führt das moralisch geforderte Verbot der „cultural occupation“. Es geht davon aus, dass ein Problem ausschließlich von den Betroffenen erörtert werden dürfe und Außenstehende dazu zu schweigen hätten.  Der Diskurs wird damit allein für die Betroffenen und Interessenten reserviert. Die Forderung erstaunt schon deswegen, weil damit letztlich nur der Lobby der Interessenten die Diskussion einer Frage zugestanden wird – ein Ergebnis das wir in Wirtschaft und Politik sonst strikt unterbinden. Vor allem werden aber Außenansichten unparteiischer Dritter als unmoralische Besetzung eines Themas ausgeschlossen. Im Ergebnis fehlt damit jegliche neutrale wissenschaftliche Erörterung dazu; es gibt keine Gesamtdarstellung aller – auch kritischer – Stimmen, obwohl erst die Gesamtheit der Meinungen ein endgültiges Bild erbringt. Gerade in Europa hat der Einfluss fremder Meinungen kulturelle Entwicklungen besonders gefördert. Die deutsche Klassik beruht auf dem Einbringen der Gedankenwelt der Antike; das deutsche Recht wurde erst durch die Rezeption des römischen Rechtsdenkens zu einer einheitlichen und praktikablen Rechtsordnung geformt. Der Roman der weißen Autorin Harriet Beecher Stowe, „Onkel Toms Hütte“, dürfte mehr zur Sklavenbefreiung beigetragen haben als manche große abolitionistische Bewegung. Die Beispiele belegen, dass gerade die Ansichten von außen den öffentlichen Diskurs bereichern und vervollständigen.

Unter dem Stichwort „wokeness“ forderte man anfangs ein Feingefühl gegenüber anderen Menschen. Sensibilität im Umgang mit anderen Personen ist zweifellos richtig und angebracht. Wenn aber die Aufforderung zur Achtsamkeit und Vermeidung von Taktlosigkeit zum moralisch bindenden Gebot weiterentwickelt wird, nicht zu sagen, was andere stören oder auch nur befremden könnte, wird die Meinungsfreiheit völlig zu Fall gebracht. Dann ist nicht mehr der Wille des Äußernden, der seine Auffassung in die Diskussion einbringen will, sondern die Empfindsamkeit des Empfängers Maßstab für die Zulässigkeit einer Meinung. Das Grundrecht soll jedoch alle Stimmen zu einem Thema erlauben, weil nur auf diese Weise jeder seine Gedanken und Erfahrungen beitragen kann und erst die Vielfalt der Meinungen ihr Gesamtspektrum entfalten kann. Nur die „Aus-Einander-Setzung“ bringt Erkenntnisertrag, weil alle Argumente auf den Tisch kommen. Das wussten schon die Scholastiker des Mittelalters mit ihrer Diskussionstechnik von These und Antithese. Wokeness geht darüber mit moralischem Verbindlichkeitsanspruch hinweg. Gerade die Meinungen, an denen die Gesellschaft Anstoß nahm, haben die gesellschaftliche Entwicklung vorangebracht. Luthers 97 Thesen an der Schlosskirche zu Wittenberg, haben damals Klerus und Volk aufgeregt, aber letztlich zur Religionsfreiheit beigetragen.  Emile Zolas Roman „J´accuse“ hat im französischen Militär Empörung ausgelöst, aber in der kritischen Darstellung der Affäre Dreyfuss den Antisemitismus ans Tageslicht gebracht. Wer wokeness als verbindliches Gebot versteht, nur auf den Beifall der Zuhörer zu achten, verliert die Freiheit der Meinungsäußerung, die dem Redner Gedankenfreiheit bieten, aber nicht seinen Zuhörern ein gutes Gefühl verschaffen soll.

Mit diesen vier Techniken versuchen moralisierende Missionare die öffentliche Diskussion auf ihre vorgefassten Ideologien zu verengen. Andersdenkende werden mundtot gemacht. Demokratie, Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft brauchen aber die Offenheit aller Stimmen und Argumente. In Deutschland müssen nach den Vorgaben des Grundgesetzes alle Bürger gehört werden.  Wir sollten den moralisierenden Missionaren Einhalt gebieten.